Welche Trends und Themen sorgen in der Gastronomie für neue Impulse und werden die Branche jetzt und in der Zukunft beschäftigen? Jan-Peter Wulf veröffentlicht dazu am Anfang jedes Jahres auf dem nomyblog seine Prognosen. Für uns hat er die Gastro-Trends 2022 kompakt zusammengefasst.
1. Die neue Innenstadt
Wir alle erinnern uns an komplett verwaiste Innenstädte in den Lockdowns. Corona hat dramatisch beschleunigt, was bereits seit vielen Jahren im Gange ist: Die Citys, Einkaufsstraßen und Fußgänger*innenzonen werden immer leerer. Umdenken tut Not.
Aktuelle Frequenzmessungen ergaben, dass seit Corona bis zu einem Drittel weniger Passant*innen durch die Straßen unserer Städte flanieren. Der starke Trend hin zum Online-Kauf schwächt den Einzelhandel – und damit auch die Gastronomie, denn das klassische „Einkaufserlebnis“ aus Shopping und dem Kaffee oder Lunch findet heute seltener statt. Innenstädte und Quartiere müssen neu gedacht werden: Gesucht und gebraucht werden verkehrsberuhigte oder ganz autofreie Zonen, statt dessen lebendige Orte für Kreativität und Verweilen, Arbeiten, Einkauf und Genuss. „Placemaking“ nennt sich dieser Ansatz. Dazu gehört auch, die zunehmenden Leerstände mit Leben zu füllen, indem kleine Läden oder Gastronomien zum günstigen Preis angesiedelt werden – auch temporär, wie es mit dem Projekt „Stadtlabore für Deutschland“ in einigen Städten bereits getan wird. Auch ein Ansatz: In Städten wie München und New York sind in vielen Straßen aus Parkbuchten Schankvorgärten und Pop-up-Terrassen für Cafés, Bars und Restaurants geworden. Da bekommt der Begriff Parkraumbewirtschaftung eine ganz neue Bedeutung.
Lesetipp: aktuelle Studie der IFH Köln zum Thema Innenstadt-Erneuerung, kostenloser Download unter www.ifhkoeln.de/produkt/innenstadtinitiative
Fotocredit: Jan-Peter Wulf
Trend 2: Köstliche Intelligenz
Die Digitalisierung in der Gastronomie schreitet in großen Schritten voran, und auch die Künstliche Intelligenz hält Einzug in Form von Tools und Produkten für die Branche, die mittels Automatisierung sowie großer Datenmengen den Betrieben neue Möglichkeiten eröffnen.
Zuletzt tauchten im TV immer wieder Bilder von Servicerobotern auf, die sich ihren Weg durch (auch deutsche) Cafés und Restaurants bahnen und Essen an die Tische bringen – selbstfahrende Servierwagen. Putzig, aber spannender noch sind Lösungen für den Backoffice-Bereich: Zum Beispiel Mülleimer, die den Müll messen – so haben die Unternehmen „Kitro“ aus der Schweiz und „Winnow“ aus England Systeme entwickelt, bei denen mittels Kamera, KI und Waage gemessen und kalkuliert wird, was täglich so in der Küche abfällt – und zwar heruntergebrochen auf das jeweilige Lebensmittel. Damit kann grammgenau ermittelt werden, was das kostet und entschieden werden, wie man diese „Kosten für die Tonne“ verhindert. „Tastewise“ aus Israel wiederum wertet Millionen von Speisekarten oder Instagram-Posts aus, um Info zu geben, welches Food gerade in welcher Stadt oder Region im Trend ist. Und in der Küche könnten tatsächlich bald Roboter-Systeme wie „Aitme“ oder „Davincikitchen“ Teilprozesse übernehmen. Ob sie dann den Menschen verdrängen oder im Gegenteil kreativeres, inspirierenderes Arbeiten ermöglichen, weil sie Kopf und Hände frei machen, wird sich zeigen oder genauer: KI-Strategien, die den Menschen einbinden, sind nötig. Große Unternehmen wie Starbucks („Deep Brew“) entwickeln diese längst – vielleicht steht bald unser Name auf dem Becher, bevor wir ihn den Baristas verraten haben.
Lesetipp: Das Buch „Food Code“ von Hendrik Haase und Olaf Deininger (Kunstmann 2021) beschreibt, wie weit unser Essen vom Acker bis zum Teller bereits digital organisiert wird.
Fotocredit: AdobeStock
Trend 3: #proggastro
In vielen Bereichen der Gesellschaft erleben wir zurzeit enorme Veränderungsprozesse, seien es Initiativen für den Klimaschutz oder mehr Sensibilität für Rassismus und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Gastronomien mischen hier aktiv mit.
Immer mehr Betriebe und ihre Mitarbeiter*innen wollen Teil der Lösung statt Teil des Problems sein und engagieren sich progressiv. Beispiele: Im Berliner „BRLO Brwhouse“ hat man ein Safeword eingeführt, der Name eines fiktiven Biers. Wer sich nicht sicher fühlt, kann Mitarbeiter*innen dieses Wort nennen und bekommt umgehend Hilfe, u.a. wird für einen sicheren Heimweg gesorgt. Das macht den Ort zu einem „safe space“. Der Aufkleber der Gastro-Kampagne „breastfeeding welcome“ signalisiert, dass das Stillen in den teilnehmenden Betrieben willkommen ist – nicht immer wissen stillende Personen, ob dies so ist. Klimaschutz konkret lässt sich mit dem 2021 in Deutschland gestarteten „Zero Foodprint“ umsetzen – ein Prozent der Umsätze geht in regenerative Landwirtschaft, das Projekt setzt der Verein für nachhaltige Gastronomie Greentable e.V. (bei dem auch Kaya & Kato Mitglied ist) um. Berliner Clubs haben sich mit einem „Code of Conduct“ zu mehr Klima- und Umweltschutz, aber auch zur Förderung von Barrierefreiheit, Stärkung von Diversität der Clubgästinnen und -mitarbeitenden, Gleichstellung von Geschlechtern sowie Bekämpfung von Rassismus selbst verpflichtet. Und in Köln sorgt das Projekt „Gastro 8.0“ dafür, Menschen mit Migrations- oder Fluchtgeschichte und ungeklärtem Aufenthaltsstatus berufliche Perspektiven in der Branche bekommen – Beispiele für progressive Gastronomie.
Hörtipp: der Podcast „Rice and Shine“ über (vietnamesisches) Essen und kulturelle Aneignung, https://fckaf.de/Xw4
Fotocredit: Jan-Peter Wulf
Trend 4: Veganormal
„Alle Wahrheit durchläuft drei Stufen. Zuerst wird sie lächerlich gemacht oder verzerrt. Dann wird sie bekämpft. Und schließlich wird sie als selbstverständlich angenommen.“
Sagte Schopenhauer und der Satz lässt sich auf das Thema vegane Produkte übertragen: Wurden sie einst, zumal in der Gastronomie, belächelt und dann nach dem Motto „niemand nimmt mir mein Schnitzel weg“ bekämpft, sind sie jetzt schon fast selbstverständlich – und das nicht nur im „Veganuary“. Zwar ist die Zahl reiner Veganer*innen hierzulande noch immer im niedrigen Prozentbereich, aber über die Hälfte schätzt sich laut aktueller BMEL-Umfrage als „flexitarisch“ ein und verzichtet öfter auf tierische Produkte. Verzicht ohne Verzicht lautet das Motto für die Gastronomie: Vegane bzw. pflanzenbasierte Speisen auf Augen- und Zungenhöhe mit herkömmlichem fleischbasiertem Angebot. Drei-Sterne-Restaurants wie das „Eleven Madison Park“ New York oder das „Geranium“ in Kopenhagen stellen auf komplett vegan um, neue Fine-Dining-Konzepte wie das Berliner „Oukan“ starten direkt vegan, auch Lieferdienste wie „Good’n’Vegan“ profitieren vom Trend (seit Corona nehmen vegane Bestellungen überproportional zu). In der Gemeinschaftsverpflegung bzw. dem Catering sieht es nicht anders aus: Die Charité in Berlin hat neuerdings ebenso rein pflanzliche Speisen im Angebot wie die Kunden des zweitgrößten Caterers Aramark – und an der Uni in Bochum hat soeben das Mensa-Bistro „Rote Bete“ eröffnet, das nur pflanzliche Speisen anbietet. Ach ja: Seit dem 1. Januar gibt es an Bord der Deutschen Bahn Hafermilch – auf vielfachen Wunsch.
Lesetipp: das kostenlose PDF „Plant Power“ von Köchin und Food-Entwicklerin Antje de Vries mit vielen Tipps und Impulsen für die Gastronomie, Download hier https://fckaf.de/d04
Fotocredit: Unsplash
Trend 5: Ghost Kitchen
Was mysteriös klingt, könnte tatsächlich ein gigantischer Markt werden: Restaurants ohne Gäste vor Ort, ohne Tische und Stühle, die ausschließlich liefern bzw. außer Haus verkaufen, wird enormes Umsatzpotential bescheinigt.
Grund dafür ist, dass Essen bestellen längst eine gelernte Praxis geworden ist – und dass in diesem Zuge auch der Anspruch an die Qualität steigt. Spezielle Produkte nach eigener Rezeptur statt Standard-Lieferservice, der von indisch bis Pizza alles abdeckt, attraktives Branding und spannender Content in sozialen Netzwerken – wer eine „Ghost Kitchen“ betreibt, muss sich ins Zeug legen, kann dafür aber „externe“ Stammgäste und gute Umsätze ernten. In den USA geht die Zahl der auch „Dark Restaurants“ genannten Konzepte in die Hunderttausende, in Deutschland ist sie noch klein, doch Konzepte wie „Tortas Don Jaime“ aus Hamburg, „Tiffin“ aus Berlin oder „Korean Style“ aus Köln zeigen – da geht was. Bedrohung oder Chance für Restaurants? Kommt drauf an: Eine zusätzliche, rein auf Lieferung ausgerichtete virtuelle Food-Brand zu starten, bietet Gastronomien die Möglichkeit, ihre Küchenkapazitäten besser auszulasten oder mit recht wenig Invest zu expandieren, indem z.B. eine Hinterhoflocation ohne Straßenlage – denn die braucht man nicht – angemietet wird. Der US-Lieferdienst „Grubhub“ schätzt, dass 51% der Restaurants auf seinem Portal eine oder gar mehrere zusätzliche Foodbrands lanciert hat – also: Da ist Dynamik drin.
Surftipp: Das Dossier „All About Ghost Kitchen“ von Rational, https://fckaf.de/Mh9
Fotocredit: AdobeStock
Die Gastronomie-Trends 2022 in voller Länge mit vielen weiteren Beispielen gibt es auf www.nomyblog.de